Erde zu Erde
Ein Fall für Burnett
Mein erster Fall. Er lag Jahre zurück. Und er sollte mich nicht zum letzten Mal in den kleinen, stillen Ort Boarhills nahe der Küste führen.
Ich lief die schmutzige Straße entlang.
Der kleine, geflochtene Koffer in meiner Hand war nicht schwer, aber die Kälte zerrte an meinen Fingern. Niemand war zu sehen und die unscheinbare Sonne senkte sich langsam in einen eisigen Abend.
Ich holte den Brief aus meiner Innentasche und las noch einmal die Wegbeschreibung, die Mrs. Dearing ihrem Schreiben hinzugefügt hatte.
Wegbeschreibung
Folgen Sie zunächst der Straße. Sie führt Sie am Marktplatz und dem Schulhaus vorbei. Wenn Sie die Kirche passiert haben, wenden Sie sich nach rechts und steigen den schmalen Pfad über die Steintreppen empor. Laufen Sie an der Friedhofsmauer entlang, bis Sie an ein großes, gusseisernes Tor gelangen und folgen Sie dann dem Kiesweg, der Sie durch ein kleines Waldstück direkt an die Pforte von Kenly Green House führt.
Es war bereits dunkel, als ich Kenly Green House erreichte. Ich klopfte. Einige Fenster des Anwesens waren erleuchtet. Ich sah mich von der Freitreppe aus um. Alles war wie ausgestorben. Kein Mensch, kein Tier war zu sehen. Ich atmete tief durch und klopfte erneut. Der Weg war unheimlich gewesen. Die aufziehende Dunkelheit und das Gefühl, beobachtet zu werden, hatten mich begleitet. Ein Scharren hinter der Friedhofsmauer hatte meine Schritte beschleunigt.
Endlich machte sich drinnen jemand an der Tür zu schaffen. Ich straffte mich und stand einem älteren, gebeugten Herrn gegenüber, der sich als Butler William vorstellte und mich hereinbat. Geschickt entwand er mir Koffer und Mantel.
Drinnen war es warm und William führte mich in einen mit vielen Kerzen beleuchteten Salon, in dem bereits Mrs. Dearing auf mich wartete.
Wir speisten nicht allein. Ein weiterer Gast saß an der langen Tafel. Mrs. Dearing stellte ihn als Reverend Andrew vor. Er habe erst in diesem Jahr seine Arbeit in der kleinen Gemeinde Boarhills angetreten und sei ihr in vielem und insbesondere in den letzten Tagen eine große Hilfe gewesen. Reverend Andrew blickte sie ergeben und mich freundlich an und versuchte etwas Smalltalk, wurde aber schnell von Mrs. Dearing unterbrochen, die es wohl nicht aushalten konnte, wenn jemand anderes sprach als sie.
Das Hühnchen war vorzüglich und ebenso der Weißwein, den der Butler dazu reichte. Eine kleine Szene, die ich während des Dinners beobachtete, beschäftigte mich. Ein winziges Kopfschütteln des Hausmädchens, die mir als Lilly vorgestellt worden war. Es schien mir, als gelte es Mrs. Dearing, die daraufhin ihren Monolog über den Krieg jäh unterbrach und sich stattdessen über die aufsässigen, schottischen Bauern ausließ. Der Reverend nickte mir matt zu und versuchte ein Gähnen zu unterdrücken. Als der Butler mein Glas ein weiteres Mal füllen wollte, lehnte ich dankend ab, gab vor, dass ich nach der langen Reise müde sei und ließ mir mein Zimmer zeigen. Als ich das Esszimmer verließ, sah ich wie der Reverend beschwichtigend die Hand auf Mrs. Dearings Arm legte. Dann folgte ich dem Butler zu meinem Zimmer im oberen Stock.
Das Zimmer, das man mir zugedacht hatte, war schön geschnitten und gemütlich. Eine Kerze brannte. Die dicken Vorhänge waren zugezogen. Mein Mantel und mein Koffer lagen bereits auf dem Bett.
William wünschte mir eine gute Nacht und verbeugte sich. Beim Hinausgehen kicherte er gruselig und raunte:
Ich dachte nicht daran, mich schon zu Bett zu begeben. Vielmehr versuchte ich meine Gedanken zu ordnen. Was für eine seltsame Gesellschaft.
Die Ehefrau, Mrs. Dearing. Laut und selbstverliebt.
Der Butler William. Ein wenig beängstigend, aber zuvorkommend.
Das Hausmädchen Lilly. Still und ernst. Was hatte das Kopfschütteln zu bedeuten?
Reverend Andrew. Hilfsbereit und zurückhaltend. War mehr zwischen Mrs. Dearing und ihm?
Die Kirchenglocke schlug. Es war 11 Uhr. Vorsichtig zog ich einen der Vorhänge zurück und schaute über die silbrig schwarze Wiese. Alles war still. Plötzlich bemerkte ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Ein schneller Schatten kam auf Kenly Green House zu. War das ein Hund? Er verschwand im Schatten vor dem Gebäude. Schnell schlüpfte ich in meinen Mantel und schlich mich durch den matt erleuchteten Flur zur Treppe. Auf dem Absatz blieb ich stehen. Ich hatte aufgeregt flüsternde Stimmen vernommen.
Ich folgte dem Butler. Sir Toby, ein aufgeweckter Rauhaardackel, begrüßte ihn stürmisch und leckt ihm die alten Hände. Der Butler streichelte das Tier ausgelassen und klopfte ihm die Erde vom Fell. Dann führte er ihn an mir vorbei in die Küche, wo er ihm die Reste des Dinners in seinen Napf füllte. Lächelnd beobachtete er, wie der Hund fraß.
Schon nach kurzer Zeit kratzte Sir Toby an der Hauptpforte und fing an, durchdringend zu winseln. Er wollte wieder nach draußen. Der Reverend kam hinzu und fragte, was denn in den armen Hund gefahren sei. Er näherte sich freundlich und streckte die Hand aus, um ihn zu streicheln. Sir Toby begann zu knurren. Er fletschte die Zähne. Schnell zog Reverend Andrew die Hand zurück und der Butler hielt Sir Toby am Halsband fest. Der Reverend versuchte seinen Schrecken fröhlich zu überspielen und erwähnte beiläufig, dass sein Hund Connor bei Fremden auch immer angespannt gewesen sei. Dann verabschiedete er sich hastig und quetschte sich an dem knurrenden Sir Toby vorbei aus der Tür, um zum Pfarrhaus zurückzulaufen.
Sir Toby hörte auf zu knurren, als die Pforte sich hinter dem Geistlichen geschlossen hatte, doch schien das Tier sehr aufgeregt zu sein und fing wieder an zu scharren. William seufzte dankbar, als ich vorschlug, eine kleine Runde mit ihm zu gehen und gab mir eine Leine und eine Laterne. Sir Toby zog mich den ganzen Kiesweg entlang über das Anwesen und blieb erst an der Friedhofsmauer stehen. Er stellte sich auf die kurzen Hinterbeine und als ich die Leine löste, sprang er mit einem überraschenden Satz über die Mauer. Ich kletterte ihm nach. Mit Hilfe der Laterne konnte ich zwischen den alten Gräbern ein Loch erkennen. Sir Toby lag winselnd an dessen Rand. Überall war Erde verstreut. Als ich nähertrat, entdeckte ich in dem Loch einen Körper. Ich erkannte ihn sofort, denn Mrs. Dearing hatte ihrem Brief ein Bild ihres vermissten Gatten hinzugefügt.
Ich hatte Mr. Dearing gefunden.
Bei der Untersuchung des Toten fielen mir zwei Einschusslöcher in seiner Brust auf, die mit Sicherheit die Todesursache gewesen waren.
Sir Toby hatte seinen Herren ausgegraben und mich zu ihm geführt. Ich tätschelte ihm den traurigen Kopf. Jemand musste dem treuen Tier einen heftigen Schlag verpasst haben, denn ich fühlte eine große Schwellung zwischen seinen Ohren.
Nach kurzer Überlegung entschied ich mich, das Grab für die Nacht zu verschließen, denn ohne Hilfe hätte ich den Toten niemals transportieren können.
Einige Zeit später machten wir uns auf den Rückweg. Wir betraten Kenly Green House über den Dienstboteneingang, den der Butler für uns offengelassen hatte.
Nachdem ich mir die Erde von den Händen und aus dem Gesicht gewaschen hatte, schrieb ich einen Brief, rollte ihn eng zusammen und steckte ihn Geraldine, meiner Brieftaube, ans Bein. Sie war froh, endlich aus dem Koffer heraus zu sein, und würde ihn auf schnellstem Weg zu meinem Freund Inspektor Macduff nach Edinburgh bringen.
Dann beschloss ich, mich zur Ruhe zu begeben und meine nächtliche Entdeckung erst einmal für mich zu behalten. Ich streichelte Sir Toby, der sich vor meinem Bett zusammengerollt hatte und blies die Kerze aus.
Als ich erwachte, dämmerte der Morgen bereits vorsichtig. Ich stand etwas gerädert von der zu weichen Matratze auf und ließ den hungrigen Hund aus der Tür. Er wuselte sogleich Richtung Küche davon. Plötzlich hörte ich ihn knurren.
Dann ein Poltern, gefolgt von einem Winseln. Ein unterdrückter Schrei war zu hören und schon stürmte Sir Toby aus der Küche die Treppe herauf und in mein Zimmer.
Ich sah, dass er blutete. Aufgeregt ließ er etwas auf den Boden fallen. Es war ein Revolver. Bei näherer Betrachtung erkannte ich einen Webley Mk. VI, der, während des Weltkriegs, in vielen Holstern gesteckt hatte.
Ich wickelte die Waffe pfleglich in mein Taschentuch und verstaute sie in meinem Koffer. Dann kümmerte ich mich um den verletzten Hund. Die Wunde war zum Glück nicht sehr tief.
Es klopfte. William fragte nach meinem Befinden und lud mich ein, zum Frühstück ins Esszimmer zu kommen. Auf dem Weg nach unten raunte er mir zu, dass Mrs. Dearing etwas angespannter Stimmung sei. Sie hätte bereits das Mädchen böse angefahren und nach dem Reverend geschickt.
Entsprechend eisig war die Begrüßung. Mrs. Dearing schaute finster vor sich hin und erwiderte meinen Gruß nur abwesend.
Ich ließ mir meinen Toast mit Schinken und Ei schmecken und fragte sie beiläufig, ob es im Haus Waffen gäbe. Sie schaute mich durchdringend an und gab an, dass ihr Ehemann einen Revolver besäße, der ihm im Krieg gute Dienste geleistet habe und den er in seinem Nachttisch aufbewahrte. Ansonsten gäbe es in Kenly Green House ihres Wissens keine Waffen. Dann verstummt sie wieder und schwieg, bis ich mich erhob.
Ich begab mich in die Küche. Als ich eintrat, drehte sich Lilly erschrocken zu mir um. Sie ließ schnell etwas in einer Schublade verschwinden und verzog dabei das Gesicht, als hätte sie Schmerzen.
Draußen empfing der Butler jemanden an der Hauptpforte. Ich vermutete, dass es Reverend Andrew war, denn Sir Toby, der noch in meinem Zimmer war, schlug an.
Das Hausmädchen versuchte unterdessen, leise aus der Küche zu schlüpfen, doch ich hielt sie auf. Schließlich hatte ich einige Fragen an sie.
Als sie gegangen war, öffnete ich die Schublade. Auf dem Besteck lag ein altes Foto. Das Foto einer glücklichen Familie. Auf der Rückseite stand in schöner Handschrift: „Von Herzen für A&L. In Liebe, Mutter and Vater.“
Ich steckte es ein und verließ die Küche.
Aus dem Salon hörte ich die Stimme von Mrs. Dearing dröhnen.
Die Salontür öffnete sich und ich stand Reverend Andrew gegenüber. Er wirkte ermüdet, aber rang sich ein Lächeln ab, als er mich sah.
Mittlerweile war es Mittag geworden und die Sonne erreichte ihren höchsten Stand. Dennoch wurde es nicht richtig hell. Meiner Berechnung nach musste die Verstärkung aus Edinburgh in Kürze eintreffen. Es wurde Zeit, alle zusammenzurufen und mit meinen Erkenntnissen zu konfrontieren.
Ich bat den Butler, Mrs. Dearing, Lilly, Reverend Andrew und sich selbst in den Salon einzuladen. Als alle Verdächtigen im Raum waren, eröffnete ich Ihnen, dass ich Mr. Dearing in der vergangenen Nacht mit Hilfe von Sir Toby gefunden hatte. Mrs. Dearing fing sogleich an zu schluchzen und murmelte etwas von Untreue und all den vergangenen Jahren. Lilly, der Reverend und William blickten mich gespannt an. Ich sagte ihnen, dass ich ihn auf dem örtlichen Friedhof gefunden hatte. Tot. Erschossen. Und vergraben. Mrs. Dearing schrie auf und wurde ohnmächtig. Der Reverend, der neben ihr gestanden hatte, ließ sie, ohne das leiseste Zucken zu Boden fallen. Er warf einen Blick aus dem Fenster, durch das Inspektor Macduff mit seinen Leuten zu sehen war, die zügig das Anwesen umstellten. Ich lief zum Eingang und begrüßte meinen Freund herzlich. Er kam gleich zur Sache und wollte wissen, ob ich den Täter bereits entlarven konnte. Da es mein erster Fall war, hatte ich besonders gründlich darüber nachgedacht, um mich nicht zu blamieren. Jedoch deuteten alle Hinweise auf eine bestimmte Person hin.
Wissen Sie, wer Mr. Dearing getötet hat?
Entscheiden Sie!
Es war:
Mrs. Dearing
Butler William
Reverend Andrew
Lilly